„Unendliche
Stille“ oder das Schmelzen der Wahrheit im Schnee
Davide
Longos Der Steingänger und warum
dieser Roman keine Kriminalgeschichte ist,
aber ein großes Stück Literatur
von Friederike Römhild
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btb 2008 Klaus
Wagenbach 2015 Rowohlt
2016
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Im Zentrum des Romans Der Steingänger (2004) von
Davide Longo, der kein Kriminalroman ist, aber doch um ein Verbrechen kreist,
steht der Steingänger Cesare. Er findet den einunddreißigjährigen Fausto
Berardi tot auf, mit dem er über mehrere Jahre Flüchtlinge vom piemontesischen
Varaita-Tal an der italienisch-französischen Grenze über die Berge nach
Frankreich geschleust hat. Cesare, von vielen „der Franzose“ genannt, weil er mit
seiner Familie 1949 nach Marseille gezogen war, kehrte erst als Erwachsener
wieder an seinen Geburtsort zurück. Damals in Frankreich war er elf Jahre alt
als es in der Schule nicht lief und er wie sein Vater am Hafen zu arbeiten
begann. Wegen der Körperverletzung eines Polizisten bei einer Auseinandersetzung
auf einem Frachtschiff kam Cesare fünf Jahre in Haft.
Nach seiner Entlassung kehrte er in den Piemont
zurück. Verliebt in die junge Adele, die zu heiraten er sich nicht leisten konnte,
ließ er sich überreden als Schleuser für afrikanische Flüchtlinge zu arbeiten.
Als Cesare Faustos Leiche im Flussbett des Cumbo entdeckt, ist Cesare längst
ein einsamer Mann. Seit Adeles Tod vor dreizehn Jahren lebt er zurückgezogen
und allein in den Bergen. Der Fund der Leiche sorgt umso mehr für
Gesprächsstoff, denn Fausto ist nicht ertrunken, sondern zwei Schüsse nahmen
ihm sein Leben. Im Dorf aber reden die Leute mehr übereinander als miteinander
und sofort gerät Cesare unter Verdacht. Das ist die Kriminalgeschichte des
Romans.
So nebenbei wie Cesares Familiengeschichte in den
Roman einfließt, so randständig geht es auch nur um die lückenlose Aufklärung
des Mordfalls. In der Kneipe berichten im Hintergrund die Regionalnachrichten
im Fernseher von dem Mord. Die Kommissarin Sonia di Meo, die die Ermittlungen
im Mordfall leitet, ist immer wieder im Gespräch mit Cesare, doch dabei
entsteht zwischen den beiden eine Nähe und Intimität, die weniger der Aufklärung
des Verbrechens als der Erhellung der Figur Cesares dient, der sich sein
eigenes Bild von der Lage des Falls macht. In Faustos Hütte findet Cesare einen
Beutel mit Geld, Untersuchungsergebnissen und Schlüsseln, es gibt ein Konto bei
einer Bank in Frankreich, Kontakte in Turin, Hinweise und Spuren, die kaum
Antworten bringen. „Durch das Fenster nach Norden drang das Licht bereits
leblos herein, das Fenster nach Süden sah aus wie ein weißes, rahmenloses
Bild.“ Es ist der Schnee, der alles verschluckt.
Weder die genauen Abläufe, noch ihre Rekonstruktion
wie sie typisch für einen Kriminalroman sind, werden hier erzählt, stattdessen erfahren
wir von der Wahrnehmungsmatrix der Figuren, z.B. Faustos Vater: „Parin Griros
betrachtete die dicken Schneeflocken durchs Fenster, sie waren so weit weg.“
Oder: „Die Kommissarin betrachtete den Schnee, der durch das
Mondlicht eintönig aussah.“ Und ohne metaphorisch oder dramatisch werden zu müssen, liegt in diesem
schlichten Realismus bereits das ganze Drama der Verlassenheit verborgen.
Subtil und klar zugleich.
In den Vordergrund dieses Romans drängt also vielmehr von
der ersten Seite an eine dumpfe, bedrückende, stille Atmosphäre, die einen
Stimmungsraum erzeugt, in dem die Menschen mit ihrer eigenen Identität auf
unterschiedliche Art zu ringen beginnen, im Zentrum Cesare. Diesen
atmosphärisch dichten Ton, den der Roman nicht mehr verlieren wird, befördern
die Beschreibungen der Landschaft und das Motiv des Schnees. Die Protagonisten
fühlen sich dabei ihrer Umgebung völlig entfremdet: „Hinter sich spürte er die
Natur, schweigend und still war sie, aber verbunden fühlte er sich ihr nicht.
Auch das Haus, das immer sein Zuhause gewesen war, erschien ihm jetzt fremd.“
Beeindruckend ist diese Intensität und
Stringenz mit der Longo eine Stille und Verlassenheit erzeugt, die die Figuren
umgibt, aber kaum aufrührt. Ob im Bus, auf der Straße, in der Kneipe oder in
den Bergen, so farb- und strukturlos wie der Schnee ist auch die Kommunikation der
Dorfbewohner und Protagonisten. Eine Sphäre des Schweigens und der Stille, die
erzählt, ohne laut zu werden: „Zurück blieb eine Stille aus vielen kleinen
Geräuschen, keines übertönte das andere.“, heißt es einmal. So etwa ist das
Brummen des Kühlschranks in der örtlichen Kneipe zu hören und nichts weiter –
nicht die Stimmen, nicht die Gläser, nicht der Abend, nicht die Straße. Einzig
das Brummen des Kühlschranks. Neben der Natur gibt es nur wenige
Handlungsorte: da ist Cesares Wohnung, sowie die Hütte Faustos, die Kneipe, die
Bäckerei und das Kommissariat.
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Fandango
2004
Fandango 2012 Feltrinelli 2016 |
Auf diese Weise reduziert sich alles im Roman: die
Landschaft, die Menschen, ihre Gespräche sowie die Sprache des Autors, die
Atmosphäre ebenso wie die Spannung, die Schauplätze ebenso wie die Tageszeiten.
In der Reduktion finden Raum und Zeit, Protagonist und Handlung ihre Kraft und
Intensität. Diese Reduktion und Stille verschärfen eine Untergangsstimmung, die
sich in der Anonymität verliert: „Von draußen kam nicht das leiseste Geräusch,
als wäre die Welt längst untergangen.“ So erlebt es der junge Sergio: „Den
Menschen passieren so viele Dinge, aber keiner weiß etwas vom anderen.“
Longos Sprache und Bildhaftigkeit stehen
teilweise in der Tradition einer italienischen Heimatliteratur und ihres
prominentesten Vertreters im 20. Jahrhundert: Cesare Pavese. Bereits Pavese
nutzte das Gehen durch die Landschaft, die Qualität der Natur, den Wechsel der
Jahreszeiten und den Mond – etwa in Junger
Mond (1950) – , auf den auch Longo immer wieder verweist, um eine
spezifische Atmosphäre der Einsamkeit und Archaik zu erzeugen. Davide Longo,
der mit dem Erscheinen seiner Romane in Deutschland als eine neue Stimme der
italienischen Literatur gefeiert wurde, wurde 1971 in Carmagnola bei Turin
geboren und steht damit dem Piemontesen Pavese auch geographisch ein wenig
nahe.
Statt der Aufarbeitung der einen Tat, ereignen sich neue,
völlig sinnlose Gewalttaten. Etwa als Cesare sich in Faustos Hütte – dem Tatort
– umsieht, trifft er auf Sergio, dem einzigen Zeugen von Faustos Tod. Bevor er
ihn erkennt, verletzt er ihn schwer mit einem Messer. Das Gefühl der Grausamkeit entwickelt
der Leser selbst, gerade indem der Text ganz bei der bloßen Schilderung dieser
Realitäten bleibt. So wird auch die Beerdigung Faustos völlig unsentimental
erzählt: „Auf dem Friedhof hielt der Pfarrer eine kurze Predigt, dann wurde der
Sarg in die Familiengruft gelegt und der Leichenbestatter schob eine Metallplatte
vor die Öffnung, denn es sah nach Schnee aus und vor dem nächsten Tag hätten
sie sie nicht verschließen können.“
Als Cesare und Sergio schließlich den letzten
Transport von Flüchtlingen erledigen, den eigentlich Fausto hätte machen
sollen, kommt es im Gebirge zu einer Schießerei. Der Angreifer wird schließlich
erschossen. Dass es sich dabei um denjenigen handelt, mit dem Cesare noch am
Grab Faustos gestanden und zu dem er eine langjährige Freundschaft hatte, erwartet
der Leser allerdings nicht. Auch wenn ihm vielleicht einfällt, das Cesare gerade
ihm von der letzten Überführung der Flüchtlinge nach Frankreich erzählt hatte. Und
so bleibt es spannend.
Von der ersten Sekunde an liegt eine Spannung in der
Luft dieses Textes, die bis zum Schluss und noch über ihn hinaus anhält. Der
ausführlich erzählte Gang durchs Gebirge mit den Flüchtlingen zeichnet immer
stärker die Angst ab, die auch Cesare umgibt, der bis dahin trotz aller
schrecklichen Ereignisse von einer auffälligen Souveränität umgeben ist. Mit
der Fluchtbewegung kommt auch Cesares Psychogramm in Bewegung. Der Ruf einer
Eule ist es, der Cesare nach dem Schusswechsel im Gebirge klar macht, „wie
einsam er war. Nicht wie sonst, wenn er sich in sein Zimmer einsperrte oder bei
dem alten Fort saß. Vielmehr eine Einsamkeit, die man weder mit jemandem teilen
noch jemandem mitteilen konnte, denn sie mußte unberührt bleiben, und der Preis
dafür war das Schweigen.“ Und auch der Roman selbst berührt diese Einsamkeit
nicht, sondern schafft es mit dem völlig reduzierten Erzählvorgang und der
Reflexion der Wahrnehmungsprozessen, diese Einsamkeit zur Darstellung zu
bringen, ohne sie zugleich antasten zu müssen. Dieser Roman redet, in dem er
das Schweigen achtet, er erzählt, ohne zu verraten, er erinnert, ohne zu
erfinden.
Das Schweigen der Dorfbewohner und der vom Schnee
immer wieder bedeckte Ort selbst, erweisen sich als Motiv: „Es ist dumm, wenn
man etwas unbedingt wissen will, Cesare. Zumal es die Zweifel sind, die uns am
Leben erhalten.“ Die Suche nach Erkenntnis, das Ausräumen der Zweifel, das Aussprechen
der Fragen wird Cesare mit dem Mord an seiner Hündin bitter bestraft. „Cesare
kniff die Augen zusammen, die Sonne blendete allzu stark wegen des Schnees.“ Der
Schnee ist das Motiv, um Macht und Wissen zu verhandeln. Es schmerzt in den
Augen, wenn man auf ihn sieht, ihn schmelzen will. Das Schweigen der Menschen
dieses Ortes wird so mehr und mehr zu einem Mechanismus der Unterdrückung. Wer
spricht, hat Schlimmes zu befürchten. „Man könnte meinen, in diesem Tal sei
Reden eine Schande“, stellt die Kommissarin Sonia fest.
Und doch sind der Schnee und das Schweigen das
einzige Lebenszeichen: „Die riesigen weißen Haufen, die der Schneepflug zu
beiden Seiten des Denkmals aufgetürmt hatte, waren das einzige Lebendige im
Dorf.“ Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass das Leben der Menschen dieses
Ortes schon längst untergegangen ist, womöglich schon vor Faustos Tod. Denn
nichts ist da, was sich trägt, außer die Existenz des Schnees – kein Wärme
zwischen den Menschen, keine Aufgeschlossenheit und Nächstenliebe und vor allem
kein Vertrauen, weder in die Menschen, noch in das Leben der Gemeinschaft. Ganz
am Ende des Romans, als der Auftrag vollbracht ist und es erneut einen Toten im
Gebirge gibt, beginnt der Schnee zu schmelzen und der Text zieht sich noch
einmal kurz in die Erinnerung zurück bevor es schließlich auch für Cesare zu
spät ist.
Obwohl Davide Longos Roman bereits 2004 in Italien
erschien und in deutscher Sprache erstmals 2008 im btb Verlag veröffentlicht
wurde, ist Longo bei den deutschen Lesern eigentlich erst seit den Neuauflagen
des Romans im Wagenbach Verlag 2015 und im Rowohlt Verlag 2016 wirklich angekommen.
Vielmehr als ein Krimiautor ist Davide Longo also, auch wenn er nach seiner
Entdeckung in Deutschland v.a. als ein solcher gelesen wird. Das mag vielleicht
auch an dem Titel seines zweiten ins Deutsche übersetzten Romans liegen: „Der
Fall Bramard“ erschien 2015 im Rowohlt Verlag. Der Fall Longo ist damit noch
lange nicht abgeschlossen.
Foto: © Paolo Giagheddu, Rowohlt Verlag
Siehe Davide Longo im Rowohlt Verlag
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