Ein
Archivar eines Zeitungsarchivs aus Neapel und eine Doktorandin der Sinologie,
die sich gerade von ihrem Freund getrennt hat, verlieben sich auf einer Fähre
nach Piräus (Griechenland). Hin und her geht es nicht nur zwischen Neapel und den
griechischen Inseln Piräus und Samos, sondern vor allem in der schnell entfachten
Liebe dieses Paares, der es bis zum Schluss nicht gelingt, bedingungslos und
formgleich zu werden. Die Geometrie dieser Beziehung ist keineswegs einfach und
schon gar nicht symmetrisch. Während die junge Frau über ein Jahr darauf wartet,
mit dem getrennten Familienvater zusammenzuziehen, um ihre Liebe tief und ganzheitlich
zu leben, bleibt der Archivar zurückgezogen und misstrauisch. Die rasende, obsessive
Eifersucht des Archivars sowie seine Entscheidungsschwäche für ein Leben mit
der jungen Frau, aus schlechtem Gewissen seiner Tochter gegenüber, blockieren
die leidenschaftliche Liebesbeziehung, die so leicht und innig in einer gemeinsamen
Nacht begonnen hatte.
In
jeder Paarbeziehung gibt es freie Rollen, die zu besetzen sind.
Als
seine Freundin ihm gesteht, auf ihrer mehrmonatigen Chinareise, auf die er sie ebenfalls
wegen seiner Tochter nicht begleiten konnte, fremd gegangen zu sein, beginnt dem
Archivar die Wirklichkeit zu entgleisen. Auslöser für die bald wahnhafte
Eifersucht des namenlos bleibenden Archivars ist schließlich eine Fotografie
aus seinem Archiv, die einen Raubüberfall dokumentiert und auf der eine Frau zu
sehen ist, die der jungen Sinologin stark ähnelt. Ist sie es? Ist sie es nicht?
Was ist an diesem Tag geschehen? Was ist Wahrheit, was ist Lüge? Was Realität,
was Irrealität? Der Archivar beginnt der jungen Frau hinterher zu spionieren
und in ihren privaten Sachen zu wühlen. Während er ihr ein Parallelleben unterstellt,
merkt er nicht, dass er selbst längst ein solches zu führen angefangen hat. In
diesem anderen Leben beginnt sich der Erzähler mehr und mehr nicht nur von
seiner Normalität, sondern auch von sich selbst zu entfernen. Und so ist diese
Geometrie der Liebe vielmehr ein Chaos der Gefühle, die immer wieder umschlagen
zwischen Liebe, Anziehung und Nähe einerseits und Ablehnung, Angst und Distanzierung
andererseits. Zweisamkeit bleibt letztlich Einsamkeit und die Leichtigkeit der
Liebe wird von der Schwere der Eifersucht zerdrückt.
Aber
die Dinge sind nur real,
wenn
wir uns auch entschließen, sie anzusehen.
Welchen
Weg also kann diese Liebe nehmen, wenn sie nicht jener Linie treu bleibt als
die sie zu Beginn des Romans bestimmt wird: „Die Linie, die du so markierst,
ist der Weg, den du für eure Liebe vorzeichnest, die Schwelle, die deine
Leidenschaft entschlossen überschreiten will. Nun kann eure Beziehung
beginnen.“ (S. 14) Der Weg, den diese Liebe nimmt, entspricht dem tatsächlichen
Weg der Protagonisten: es ist der Weg über das Meer. Die Liebe „ist blau wie
das Meer“ (S. 47). Das Meer mit seiner glatten Oberfläche ebenso wie mit seinen
Untiefen, in denen die Angst des unentschlossenen Archivars strömt: „(…) bist
wie ein Schiff, das fürchtet, von der Flasche zerbrochen zu werden, die es vom
Stapel laufen lässt.“ (S. 23) Und so wird die Zusammenarbeit der Sinologin mit
einem Journalisten des Fernsehsenders RAI für eine Sendung über die chinesische
Mafia für den eifersüchtigen Archivar ein „Unterwasserkonflikt“ (S. 39), in dem
Angst die bestimmende Strömung bleibt. Das Meer ist der Ort, an dem die Liebe einst
entstand, sich zu tragen begann und an dem sie wieder auseinanderströmt. Das
Meer ist der Ort, an dem Atmosphäre sich zu Stimmungen verdichtet: „Über der Terrasse
ist ein prall mit Wasser gefüllter Mond aufgegangen. Vom Meer kommen Windböen,
die sich in den Servietten verfangen und sie gegen die Brüstung wehen.“ (S. 17)
Schließlich geht der Archivar über das Meer, fährt auf die Insel Samos, wo er
sich auf die Ärztin Yoanna einlässt, um sich an seiner Freundin zu „rächen“.
Mit Yoanna, der Frau mit den „schiffbrüchigen Augen“ (S. 73), schwimmt er im kobaltblauen
Meer. Mit ihr verlangsamt sich die Zeit, entspannt sich sein Gefühl, wird das
„Wasser zur Erlösung“ (S. 90) im Fluss des Lebens. Doch Wellen durchfluten letztlich
das Meer wieder und reißen es auf, so wie auch das Sprachmeer Trucillos.
In
Trucillos Roman ist fast alles reduziert: die Zahl der Figuren, die
Handlungsstränge, die Zahl der Ereignisse, die Orte und Zeiten – nur eines nicht:
die Sprache, die wenn sie an sich auch schlicht bleibt, in ihrer poetischen
Entfaltung eine visuelle Kraft erlangt, die beeindruckt. Nur stellenweise, wenn
der Liebesakt erzählt wird, kippt die Poesie der Wassermetaphorik in die
Obsession einer unbedingt konstruierten Sprache: „Als du in sie eindringst,
möchtest du mit deinem Glied am liebsten bis hinauf in das Zentrum ihres
Blickes, der dich durchtränkt wie eine flüssige Flamme.“ (S. 13) Doch diese nur
wenigen Momente überschatten kaum die Individualität und Poetizität dieses
Romans. Die Geometrie der Liebe ist
ein Roman, den man in einem Rutsch lesen kann oder vielleicht sollte, damit dieser
besondere Ton, wenn man ihn endlich zu hören beginnt, nicht wieder abreist und
man den vollen Klang von Trucillos eindrucksvoller Poesie erfassen und spüren
kann.
In
den insgesamt vier Kapiteln, auf die ein Epilog folgt, wählt der Ich-Erzähler
die Perspektive des Du, die zunächst etwas befremdlich, zumindest ungewöhnlich
und anfangs anstrengend wirkt. Es braucht daher etwas Geduld, um in den Flow
dieses Textes zu kommen. Dass der eigentliche Ich-Erzähler die du-Perspektive
wählt kann jedoch auch als erstes Anzeichen dafür interpretiert werden, dass er
auf Distanz zu sich geht bzw. sich seiner selbst entfremdet fühlt. Entsprechend
existentiell sind die Fragen, die Trucillo seinen Erzähler stellen lässt. Doch
er hebt keineswegs philosophisch ab, sondern verbindet diese am Wesen des
Lebens und der Liebe rüttelnden Fragen mit der episodischen Erzählung ganz alltäglicher
Situationen, z.B. dem Einkauf in einem Kaufhaus oder dem Besuch eines Cafés.
Ganz subtil gelingt es Trucillo so auch, die Reflexion von Liebe mit einer
Kritik am Kapitalismus zu verbinden. Denn suggeriert letzterer, es sei immer möglich
alles zu bekommen, was man begehrt, lehrt gerade die Erfahrung der Liebe, das
dies nicht so ist.
Nun
bist du, wo du bist, und zugleich nirgendwo.
Die
Versuche einander zu verstehen und sich selbst zu verstehen, sind verzweifelt
und vergeblich. Zu einer Aussprache kommt es nicht und die Liebe bleibt ein
leidvoller Kampf um Kontrolle und Gewissheit. In diesem angstvollen Kampf ist
echte Hingabe unmöglich. Und so ist die Liebe dieses Paares ein Aufbruch ohne
Ankunft, eine Flut, die in der Ebbe versandet, eine Reise ohne gemeinsames
Ziel. Ihre Liebe ist ein Torso: „Plötzlich wird dir dramatisch klar, dass du
jetzt, da ihr an diesem Punkt angelangt seid, nur noch kämpfen kannst, versuchen,
sie zu orten und aus diesem Meer von Distanz zurückzuholen. Doch du hast nicht
viel Zeit: Mit jedem Moment, der vergeht, verfangen sich eure Augen einmal mehr
woanders, bricht eure Umarmung ein Stück weiter auf.“ (S. 51) Liebe erweist
sich als eine Verlusterfahrung, als das Gefühl, den anderen zu verlieren, nicht
Teil von ihm werden zu können. Nach einem Streit flüchtet der Archivar in das
ihm unerträglich erscheinende Venedig: „Schmerzhaft wird dir bewusst, dass auch
ein Bruch eine Verbindung sein kann.“ (S. 58) Doch es bleibt das „schreckliche
Gefühl, kurz davor zu sein, etwas zu erfassen, das dir jedoch immer wieder
entgleitet. (…) Wie ein Stadtteil der, Zentrum sein will, es jedoch niemals
sein wird. Sprich: wie eine Peripherie.“ (S. 123-124)
Dabei
ist die Geometrie der Liebe auch eine Geometrie der Zeit. Hatte sich Zeit mit
Yoanna entspannt und verlangsamt, beschleunigt sie sich mit der jungen
Sinologin bis zu einem Moment höchster Spannung. „Du hast auf die Gegenwart
gewartet. Die Ehrlichkeit einer Gegenwart, die frei ist von Eifersucht auf die
Vergangenheit (…). Eine Gegenwart. Hier. Jetzt.
Wie das tuckernde Fischerboot, das vor deinen Augen das azurblaue Wasser des
Hafens von Samos durchpflügt.“ (S. 100) Der Augenblick absoluter Gegenwärtigkeit
der Liebe wird auf Samos jedoch durch einen tagelangen Brand zunichte. Der Archivar
trennt sich von Yoanna und nähert sich erneut der Sinologin an. Doch mit ihr
nimmt die Zeit eine andere Richtung: „Die Zeit verändert sich, die Zeit wird zu
einem fremden Land.“ (S. 126) Als der Archivar private und intime Briefe auf
dem Computer seiner Freundin findet, reißt seine Obsession alle Dämme ein und
wird rasend. Trucillo gelingt es noch auf der letzten Seite die Spannung auf ihren
Höhepunkt zu halten und den Schiffbruch dieser Liebesbeziehung mit einer der
Novelle ähnlichen unerhörten Begebenheit aufzulösen… Was bleibt, ist eine
Liebe, die sich anfühlt „wie eine einzige offene Wunde“ (S. 60).
Luigi
Trucillo wurde 1955 in Neapel geboren. Er ist später Romancier, denn Die Geometrie der Liebe, 2015 im mareverlag
erschienen, ist sein erster Roman. Doch den italienischen Lesern (leider nicht
den deutschen) ist er bereits als Lyriker bekannt und das verwundert kaum bei
der Lektüre seines Romans, der von der Dichte und Intensität der lyrischen Sprache
genährt ist. Trucilllos Roman erschien in Italien 2013 im Mondadori Verlag
unter dem Titel Quello che ti dice il
fuoco – Das, was dir das Feuer sagt,
ein Titel, der den Brand dieser obsessiven Liebe vielleicht etwas treffender
einleitet als sein deutsches Pendant. Doch das ist kaum von Gewicht, bleibt Die Geometrie der Liebe ein dringend zu
empfehlender Roman für all jene, die im Meer der Neuerscheinungen nach einer
kunst- und niveauvollen, einer reflektierten und eindringlichen Stimme suchen.
Luigi Trucillo: Die Geometrie der Liebe, aus dem Italienischen von Valerie
Schneider, Hamburg: mare Verlag 2015. 18,00€. Mehr unter: http://www.mare.de/index.php?article_id=4179