Mit
Münchhausen nach Venedig:
Fenster
zum Träumen in Uwe Tellkamps "Reise zur blauen Stadt"
In
Reise zur blauen Stadt (2009) imaginiert Uwe Tellkamp eine Stadtwelt und
Gesellschaft zwischen Fantasie, Traum und Wirklichkeit, eine Stadtwelt, die
sich zwischen Dresden, Prag, Wien und Venedig entfaltet. Auch die Wahl der
Schauplätze changiert zwischen diesen Sphären des Traumes und der Wirklichkeit:
die Texte spielen im Serapionstheater, auf einem Basar, in der Nautischen
Akademie, im Antiquariat oder auf dem Uhrenturm. So komplex und dicht Tellkamp
in den Prosaminiaturen seine Bilder auch webt, der Aufbau des Buches ist
überraschend simpel. Tellkamp ordnet seine kurzen, manchmal lyrischen
Prosastücke vierzig Personen und ihren Handlungs- und Lebensorten zu, die an
Vielfalt allerdings auch nicht zu wünschen übrig lassen: Souffleur, Admiral,
Lehrerin, Schiffsarzt, Philosoph, Friseur, Diplomat, Richterin, Techniker,
Versicherungsmaklerin, Händlerin, Sachbe-arbeiterin der Stadtverwaltung,
Putzfrau, um nur eine Auswahl zu nennen. Die Zeit bleibt ohne Angabe, wir sind
in der „blauen Stunde“ (S. 89ff.), in der „Epoche der Drei F: Fußball,
Fernsehen, Formel 1“ (S. 78), mal ist es früh, mal spät, in der Zeit, in der
das „Meer atmet“ (S. 36). So genau weiß man das also nicht, aber das ist auch
kein Wunder, denn „die Wirklichkeit steht mit beiden Beinen im Traum“ (S. 56).
In der Mitte des Bändchens liegt das Stück „Münchhausens Tagebuch“, das nicht
nur das Stück zu sein scheint, mit dem sich der Autor wohl am besten zu
identifizieren vermag (Münchhausen erfährt in einem Schreiben, das an den
Anfang der Texte gestellt wurde, dass sein Antrag auf Förderung abgelehnt
wurde), sondern auch das längste Prosastück ist, das explizit in Venedig
spielt. Venedig wird uns in diesem und weiteren Prosaminiaturen, z.B. der
Lehrerin Libussa Federspiel, als Wechselspiel zwischen Himmel und Erde bzw.
Wasser gezeigt, schillernd zwischen Tag und Nacht. „Il canale, wie mein Nachbar
sagt,/ist immer noch auf der Suche nach dem tausendesten Wasser,/ mit dem er
sich waschen kann.“ (S. 19) Bildreich, mit Metaphern und Personalisierungen
wird Venedig gezeichnet. Aufrechterhalten bleibt dabei stets die Spannung
zwischen Kommen und Gehen, Werden und Vergehen, Sehnsucht nach der Fremde und
Sehnsucht nach der Heimat, Oben und Unten, Sicherheit und Unsicherheit, Traum
und Wirklichkeit:
Die
Motorboote haben dem Traum nichts an. Sie kreisen ihn ein,
putzen seine Klinken. Der schwarze Kirchenstuhl schwankt,
durch den der Nebel den Fondamenti beichtet, wir helfen den Musikern
Flügel und Bühnenbilder retten, wenn der ertrunkene Ober
die Kanäle hebt und den Parterres ihr erschrockenes Gesicht
auf dem Tablett des Acqua alta serviert. (…)(S. 62)
Nicht
nur spielt Tellkamp an der Grenze von Realität und Fantasie mit Raum und Zeit,
sondern stellt auch genau in dieser blauen Stunde an der Grenze zum Irgendwo
die Frage, wie ernst das Leben und seine Geschehnisse zu nehmen sind: „Wenn du
das wirkliche Blau suchst, wirst du bald in der Tinte sitzen“ (S. 10), hat der
Zauberer des Serapionstheater auf sein Türschild geschrieben. Er erinnert uns
daran, dass es wichtig ist, nicht alle Illusionen auflösen zu wollen, sondern
sie bestehen zu lassen, die Träume Träume sein zu lassen, statt sie als eine Realität
zu suchen. Jeder weiß, dass er die Seifenblase zerstört, wenn er sie berührt.
Jeder weiß, dass in Venedig die Dinge anders möglich sind, weil „Kulissen die
Wahrheit belagern“ (S. 64). „Manchmal fällt hier der Schnee kursiv.“ (S. 63).
Das Motto, mit dem Venedig zu erträumen, zu erleben und zu erhalten ist, wird
kurz beschrieben: „Wer findet, hat nicht gesucht.“ (S. 68)
Kursiv
fallen auch alle Wörter auf, mit denen man die Texte Tellkamps bisher
einzuordnen versucht. Die Texte lassen sich in ihrer Gattung kaum eindeutig
bestimmen. Entsprechend hat die Literaturkritik eine ganze Reihe von
Bezeichnungen aufgegriffen. Die Texte sind Skizzen, Miniaturen, Textbilder,
Capriccios (Formen in Musik, Bildender Kunst und Literatur, die mit Lust
und Absicht gegen die Regeln der Kunst verstoßen), Veduten (in der
bildenden Kunst werden damit wirklichkeitsgetreue Darstellung einer Landschaft
oder eines Stadtbilds bezeichnet), Allegorien, Snapshots, Bricollage.
Nur in dieser Vielheit lässt sich die Gattung bestimmen, wie auch die
Imagination der blauen Stadt von der Vielheit der Figuren, Schauplätze,
Zeitpunkte, Erfahrungen, Träume und Geschehnisse lebt. Ebenso vielfach lassen
sich Bezüge zu einer bildungsbürgerlichen Literatur und Kunst fantasieren (sie
werden nicht immer direkt markiert), etwa zu Gottfried Benn, Hugo von
Hoffmannsthal, Rainer Maria Rilke, Thomas Mann, E.T.A. Hoffmann bis hin zu
Novalis blauer Blume oder aber zur Malerei von z.B. Paul Klee (S. 61).
Uwe Tellkamp ist der literarischen Öffentlichkeit erst so richtig mit seinem
Roman Der Turm (2008) bekannt geworden, seinen ersten öffentlichen
Auftritt als Schriftsteller hatte er bereits 1992. Tellkamp veröffentlichte in
diesen Jahren zahlreiche Beiträge in Literaturzeitschriften und Anthologien bis
er sich mit seinem fast tausend Seiten umfassenden Opus, das im Milieu des
Dresdener Bildungsbürgertums spielt, an die Spitze des literarischen Himmels
schrieb. Der Roman wurde ein Bestseller, während sein erster Roman Der
Hecht, die Träume und das Portugiesische Café (2000) nur auf
geringes Interesse stieß und sein zweiter Roman Der Eisvogel (2005) das
literarische Publikum spaltete. Uwe Tellkamp, 1968 in Dresden geboren, verlor
in der DDR seinen Studienplatz wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ – Tellkamp
verweigerte den Befehl als NVA-Unteroffizier gegen Oppositionelle zu denen sein
Bruder gehörte auszurücken – und konnte erst nach der Wende 1989 sein
Medizinstudium, das ihn von Dresden nach Leipzig und New York führte, wieder
aufnehmen. Bis dahin arbeitete er als Gehilfe in einem Braunkohleförderwerk, in
einem Lichtmaschinenwerk und auf einer Intensivstation. Nach seinem Studium war
er Unfallchirurg in München. Heute lebt und arbeitet er als Schriftsteller in
Freiburg im Breisgau, München und Karlsruhe, hauptsächlich aber in seiner
Heimatstadt Dresden. Tellkamp hat mehrere Preise erhalten, darunter auch den
Deutschen Buchpreis und den Ingeborg-Bachmann-Preis.
In einem Interview mit der Regionalzeitung „Oberpfalznetz“ reflektiert Tellkamp
sein Schreiben als einen „Versuch, Heimat wiederzugewinnen“, die durch den
Ablauf der Zeit verloren gegangen ist. Um zurückzukehren, muss der Autor aber
erst einmal ausgeflogen sein. Mit seiner Reise zur blauen Stadt
unternimmt Tellkamp diesen „Ausflug“ u.a. nach Venedig in der Zeitlosigkeit und
Freiheit einer blauen Stunde seiner Fantasie. Wer mag, sei zu dieser blauen
Stunde herzlich eingeladen, zu dieser kleinen Reise in die Fantasie. Ins
Handgepäck sollten unbedingt Zeit und Ruhe eingepackt werden. Die braucht man
nämlich, will man Tellkamp nicht nur lesen, sondern seine Bilder vor dem
inneren Auge sehen, in seine Bildwelt eintauchen und seine Erzählungen
verstehen können.
Anmerkung: Die angegeben Seitenzahlen beziehen sich auf die hier vorgestellte
Ausgabe:
Uwe
Tellkamp, Reise zur blauen Stadt, Frankfurt am Main, Insel Verlag 2009,
110 Seiten, 12,80 €
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