giornale poetico - poesie II in der "Venezianischen Woche"

Sie ist gefräßig

Ich bin gefräßig. Genug ist mir zu wenig. Weiter. Immer mehr. Wieder weiter. Frisst sich der Zug, der mich durch den Süden trägt. Die Landschaft schmiert an meinen Augen vorbei, die ich schließe als der Morgen Erinnerung wird. Versunken im Dunkel drücken meine Hände das Papier auf meinem Schoß. Meine Uhr tickt gelassen. Ein wenig zu langsam. Die Ruhe ödet mich an. Ich öffne meine Augen. Meine Hände sind warm. Schmierig. Da fällt mir der Morgen wieder ein. Ich steuere meine Hand in meine Tasche und ziehe einen Reiseführer heraus. Auf dem Buch steht in dicker roter Schrift „Venedig“. Die Buchstaben glotzen mich an. Was weiß man schon von Venedig? Ich weiß es nicht. Venedig, die Stadt auf dem Wasser. Venedig und San Marco. Venezianischer Karneval. Rotwein, Masken, Canal Grande. Ich freue mich nicht sonderlich auf diese „Stadt des Zaubers“. Schließlich ist es kein Urlaub. Der Chefredakteur vom Kulturmagazin hatte wie immer zu mir gesagt: „Sie werden das schon machen. Bringen Sie mir was Nettes mit.“ So sitze ich im Zug nach Venedig. Will mehr. Und weiter. Meine Gedanken leben schon im Übermorgen. Aber meine Sprache schenke ich dem Jetzt. Ich beginne zu schreiben. Zähneknirschend. Meine Reportage könnte schon vor meiner Ankunft in Venedig fertig sein. Dann noch ein paar nette Fotos und ein paar Interviews dazwischen gesetzt. So bleibt mir noch Zeit für Postkarten, für meinen Hunger und für mich.

Ich lege Stift und Papier zur Seite. Meine Schulter hat sich verspannt. Ich schiebe die braunen kinnlangen Haare hinter meine Ohren und ziehe meine Jacke an. Es ist kühl geworden. Ich bin müde. Auf dem Sitz gegenüber setzt sich ein älterer Mann. Sein weißes Hemd fällt gestärkt. Glatt und hart verläuft der Stoff, der kaum noch vermuten lässt, dass sich ein Körper unter ihm regt. Nur am Kragen zeigt sich Leben. Der oberste Knopf ist geöffnet. Die Schulter drückt das Hemd ab, das faltig der Bewegung zu entkommen versucht. Auf seinem Schoß liegt eine Zeitung. Seine Brille hat er abgenommen. Er hält sie in seiner Hand. Ich merke plötzlich, wie mich der Mann im Zug anstarrt. Meine Augen haben seine Hände berührt. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und greife nach meinen Unterlagen. „Lebenslust und Körperkunst. Karneval in Venedig – ein Tourismusmagnet“ steht auf dem Papier. „Sie sind Journalistin?“, fragt mich der Mann von gegenüber. Er hat meine wenigen Zeilen gelesen. Mein Gesicht ist gehorsam. Ich lächle mechanisch. „Ich bin Journalistin. Ich fahre nach Venedig. Immer viel unterwegs. Ein schöner Beruf. Abwechslungsreich. Viele Erlebnisse.“ Der Mann nickt mir freundlich zu. Interessant hat er gesagt. Interessant ist das also. Mein Leben ist interessant. Alles sieht gut aus. Unkompliziert. Selbstverständlich. Gut verdaulich. „Und Sie, was machen Sie?“, frage ich den Mann. „Ich bin auf dem Weg nach Innsbruck. Meine Tochter und ihre Kinder besuchen.“ „Schön, und was ist Ihr Beruf?“. Meine Wörter schmecken wie ein Fragenkatalog. „Ich bin Arzt. Menschen helfen. Das Leben beginnen sehen.“ Ich reagiere. Sage „ja“, „interessant“. Leere Worte. Das Leben ist interessant. Aber welches genau? Andere stellen sich solche Fragen nicht. Sie leben im Jetzt. Ich aber bin gestern und morgen. Bin Frage und Antwort. Zu jeder Zeit eine andere Stimme, ein anderes Gesicht, ein fremdes Gefühl. Alles scheint gut. Blendet. Mein Spiegelbild glänzt. Errötet. Schwitzt. Verspannt. Ich fühle mich wie eine Marionette. Es zieht. Ich tanze. Ich ziehe selbst und strample. Und dann will ich mehr. Und weiter. Nur ein Gedanke ist gefräßiger als ich selbst. Wer bin ich? Und mein Bauch antwortet: Das Leben ist anders als es zu sein scheint.

In Innsbruck verabschiedet sich der Mann von mir. Er ist angekommen. Wir haben uns noch eine Weile unterhalten. Dann habe ich meine Wörter selbst gegessen. Geschwiegen. Ich fahre weiter, in einem anderen Zug. Ich sehe noch den alten Zug abfahren. Mein Reiseführer ist darin liegen geblieben. Liegen geblieben sind auch meine Unterlagen und meine Müdigkeit. Bald bin ich in Venedig. Vorfreude durchströmt meinen Körper. Überrascht mich. Ich stehe auf und blicke aus dem Zugfenster. Ich ziehe es ein Stück herunter. Der Wind bringt mein Gesicht durcheinander. Ich setze mich zurück auf die dicken grünen Polster. Die kleinen Hügel des Sitzes sind abgesessen. Das Grün ist aufgehellt. Wann nur bin ich in Venedig. Ich will aussteigen. Ich versuche zu warten. Ich will aussteigen. Ich stehe auf und gehe durch den Gang. Vor der Zugtür stelle ich mich für einen Moment neben mich. Ich sehe wie ein Fremder in mein Gesicht. Ich habe mich selbst entlarvt. Ich will aussteigen. Ich bin eine Marionette, die ich selbst gebaut habe. Jetzt ziehe ich selbst an den Fäden. Ich tanze. Vor Freude. Ich überlasse mich dem Jetzt. Meine Sprache ist mein Gefühl. Ich bin. Endlich satt. Ich bin ich und kein anderer.
 

Friederike Römhild, 2007
  

Labels: ,