Deutsche
Berichterstattung zur Turiner Buchmesse Salone Internazionale del Libro
2015
„Le
Meraviglie d’Italia“ - „Die Wunder Italiens“ war das Motto der Turiner
Buchmesse Salone Internazionale del Libro im Mai 2015. Nicht nur von Wundern,
sondern auch Verwunderungen und Bewunderungen berichteten die deutschen Medien
in ihren Kommentaren, Reflexionen und Bilanzierungen einer der wichtigsten und
größten Buchmessen Europas. In einem sind sich alle Beiträge einig: das
Interesse an der deutschen Literatur ist groß, größer, aber nicht am
größten, zwar voller Bewunderung, aber nicht voller Wunder. Denn die
Beziehungen zwischen Italien und Deutschland sind einerseits von einer großen
Faszination füreinander getragen, die andererseits eine Faszination für das
Unverständliche, das unlösliche Rätsel des Anderen ist. Es geht also
tatsächlich nicht nur um die Wunder, sondern ganz besonders das Wundern
übereinander, das den Dialog beider Länder aufrecht erhält. Dass dieser Dialog
immer schon auch ein kritischer war, zeigen schon die Äußerungen Goethes in
seiner Italienischen Reise und es sind viele Worte und Reisen gefolgt.
Genau
in dieser Faszination des den-Anderen-nicht-verstehen-können, die getragen ist
von der Erfahrung, dass die Klischees übereinander nicht unbedingte Gültigkeit
besitzen, sieht Giovanni di Lorenzo seine „Hoffnung auf die neue Grandezza“
Italiens, das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte Italiens und eine positive
Wende in den bilateralen Beziehungen Italiens und Deutschlands. Di Lorenzo, der
diese Reflexionen in seiner Eröffnungsrede der Turiner Buchmesse anstellt, kann
die bilateralen Beziehungen nämlich nicht beschönigen, auch wenn zwischen den
Zeilen seiner Rede zu spüren ist, wie schmerzlich er das Spagat zwischen
Klischee und Realität, zwischen Bewunderung und Verwunderung, zwischen
Freundschaft und Feindschaft selbst empfindet: „Dramatischerweise wird immer
sichtbarer, wie viel in den letzten 20 Jahren zu Bruch gegangen ist, auch in
der Beziehung zwischen Ihrem Land, Italien, und meiner Heimat, Deutschland“,
bilanziert di Lorenzo in seiner Rede (Die Rede ist auf Zeit online in einer
gekürzten Fassung nachzulesen: http://www.zeit.de/2015/21/italien-deutschland-rede-di-lorenzo-buchmesse-turin).
Weniger
ein Wunder als ein unbedingter Wunsch sollte es daher sein und bleiben, die
Freundschaft zwischen Deutschland und Italien kräftig zu fördern, zu pflegen
und zu gestalten. Die Literatur kann dabei eine große Hilfe sein, denn sie ist
ein guter Bodenturner: Sie beherrscht das Spagat zwischen Unverständlichkeit und
Verständlich machen, sie übt mit ihren Lesern, den Anderen zu verstehen, gerade
auch indem sie vom Nichtverstehen erzählt. Die Literatur lässt wundern und
Wunder geschehen. Dass sie das kann, hängt mit Sicherheit auch damit zusammen,
dass sie die Wunder des Anderen nicht nur an der Oberfläche packt, sondern in
ihre Tiefe geht, in der jedes Wunder auch einer Wunde ist, aus der das Wunder
als solches entstanden ist. Literatur macht uns empfänglich, verletzlich,
schlau und tolerant, sie macht uns mutig und hoffnungsvoll und deshalb sollten
wir immer mehr lesen, als wir bereits tun. Übrigens: Deutschland wird 2016
Gastland auf der Buchmesse für Kinder- und Jugendliteratur in Bologna sein.
Nutzen wir also unsere Gelegenheiten! Wir sollten allerdings noch mehr Gelegenheiten
nutzten, v.a. literarische wie Giovanni di Lorenzo in seiner Rede feststellt:
„Es tut mir persönlich sehr, sehr leid, dass die italienische
Gegenwartsliteratur in Deutschland selbst unter Kritikern dennoch kaum bekannt
ist, sieht man von Umberto Eco oder den leider verstorbenen berühmten Autoren
ab. (…).“ (ebd.) Umso wichtiger ist es, dass Italien Deutschland nach 26 Jahren
endlich als Ehrengast auf seiner Buchmesse eingeladen hat. Wir können hoffen,
dass unsere Verlage einiges aus Italien mitgebracht haben, was wir vielleicht
schon im nächsten Jahr lesen können.
In
der deutschen Berichterstattung lesen wir mehr vom italienischen Interesse an
der deutschen Literatur als umgekehrt. Auf WDR 3 ist zu hören und zu lesen wie
groß das Interesse der Italiener an den deutschen Autoren ist (http://www.wdr3.de/literatur/turiner-buchmesse-100.html)
und wie groß die Diskrepanz ist, die zwischen dem Interesse der Italiener an
der deutschen Literatur und dem Interesse an Deutschland ist, wie es in den
Medien dargestellt wird. Dass scheint nämlich nicht mehr allzu groß, weil alte
Vorurteile, die Wirtschaftskrise und alte Klischees von Hegemonie nach wie vor
auf den bilateralen Beziehungen lasten. Das literarische Parkett aber beweist
uns das Gegenteil und darüber können wir sehr froh sein. Während das
italienische Interesse nicht mehr nur Autoren wie Heinrich Böll, Günter Grass,
Christa Wolf oder Heiner Müller gilt, sondern neuerdings auch der deutschen
Gegenwartsliteratur gilt, kann man das in Deutschland umgekehrt leider noch
nicht zufriedenstellend feststellen wie wir von di Lorenzo lernen. Und es ist
wahr, wer kennt schon Autoren wie Noccolò Ammaniti, Francesco Piccolo, Elena
Ferrante, Davide Longo, Silvia Avallone, Andrea Bajani, Nicola Lagioia,
Antonella Lattanzi, Michela Murgia oder Alessandro Piperno, um nur ein paar
wenige Namen zu nennen. Gut, immer breiter fallen die Bücher Fabio Volos in den
Regalen der Buchhandlungen auf, aber damit ist die italienische Literatur zu
einseitig und oberflächlich in Deutschland repräsentiert. Doch die Lage ist
noch schwieriger, denn wenngleich von wachsenden Zahlen die Rede ist,
informiert der Publizist Luigi Reitani in einem Gespräch mit dem WDR 3 darüber,
dass die Italiener die deutsche Literatur zwar bewundern, aber kaum lesen, weil
ganze 43% der Italiener überhaupt nicht lesen würden. Über die Gründe gibt
Maria Gazetti, Leiterin des deutsch-römischen Kulturzentrums Casa di Goethe
Auskunft: „Der Riese Deutschland (…) wird mehr wahrgenommen, wegen der
Wirtschaftskraft, wegen der politischen Bedeutung in Europa, aber man kann
nicht sagen, dass es literarisch, ästhetisch jetzt hier eine große Rolle spielt
und wirklich sehr wahrgenommen wird für die kulturpolitische Diskussion.“ (http://www.deutschlandradiokultur.de/turiner-buchmesse-die-italiener-zum-lesen-bringen.2165.de.html?dram:article_id=319756)
Zwischen dem noch immer verhaltenen kulturellen Austausch beider Länder und
ihrem gegenseitigen Unverständnis, dass über die Faszination nicht hinaus zu
einem tatsächlichen Verstehen und einer empathischen Freundschaft zu gelangen
scheint bzw. sich in den letzten Jahren davon wieder stärker entfernt hat,
scheint es also doch einen Zusammenhang zu geben. Wir müssen daher unsere
Literatur noch mehr austauschen, wir müssen uns lesen lernen, dann können wir
uns auch immer besser verstehen. Dass auf der Turiner Buchmesse eher eine
Vielfalt als ein klares deutsches Bild entstanden sei, das motiviere von
Deutschland mehr entdecken zu wollen, wie Maria Gazetta beklagt, sei daher
nicht zu sehr auf die Goldwaage gelegt. Da kann sich ja noch einiges
entwickeln.
Thomas
Steinfeld berichtet für die Süddeutsche Zeitung von der Turiner Buchmesse (http://www.sueddeutsche.de/kultur/turiner-buchmesse-die-wunder-italiens-und-die-krise-europas-1.2481924):
Wir erfahren von Highlights und Kopfschütteln auf der Buchmesse, von der
Steinbach zufolge offenbar eher bescheidenen Ausstellung des Wagenbach Verlages
zu seiner Geschichte. Wir erfahren von der Freundschaft zwischen Wagenbach und
Feltrinelli und seinem Verlagsstand, den Auswirkungen der Finanzkrise, die auch
in Italien zu einem Rückgang der Umsätze des italienischen Buchhandels geführt
haben. Auch bei Steinfeld wird deutlich, was schon Giovanni di Lorenzo in
seinen Beiträgen anspricht: das Interesse an italienischer Literatur in der
ausländischen Öffentlichkeit ist eher verhalten. Steinfeld gibt einen ähnlichen
Hinweis wie di Lorenzo und fasst folgendermaßen zusammen: „Doch nimmt die
Bindungskraft der alten Geschichten deutlich ab, und neue Geschichten entstehen
nur selten und in kleinerem Format.“ Die alten Geschichten erzählen
Umberto Eco (bis heute), Natalia Ginzburg, Pier Paolo Pasolini und die neuen?
Vielleicht stoßen wir auf diesem Blog in der Rubrik „lessico famigliare“ (der
Titel der Rubrik ist eine Hommage an eine dieser „alten Geschichten“ von
Natalia Ginzburg) auf neue Geschichten, die die Bindungskraft der alten
Geschichten haben. Wir müssen unbedingt dranbleiben.
Weniger
problemorientiert sind die Berichte des Goethe-Instituts und der Frankfurter
Buchmesse, die den Auftritt Deutschlands in Turin mit organisiert haben. Das
Goethe-Institut berichtet uns, dass das Zusammentreffen von Deutschland und
Italien sehr intensiv und lebendig gewesen ist und mit großem Interesse
wahrgenommen wurde. Die Gründe für den Erfolg dieser Buchmesse sind dabei ganz
verschieden: die Buchmesse in Turin ermöglichte Begegnungen zwischen
befreundeten Autoren, beförderte neue Freundschaften und die Bekanntschaft mit
kleinen und unbekannteren Verlagen, die die deutsche Literatur in ihrem
Programm aufnehmen oder bereits aufgenommen haben. Die deutsche
Italiensehnsucht hat eine Resonanz gefunden, die auch darin besteht, dass es
ein umgekehrtes Interesse, nämlich Italiens an Deutschland gibt, das durchaus
als eine Sehnsucht gelesen werden kann. Die deutsch-italienischen Beziehungen wurden
außerdem einiger Klischees beraubt, das Image verbessert und in der
öffentlichen Vermittlung erleichtert. (http://www.goethe.de/ins/it/lp/prj/lit/bue/bmt/deindex.htm?wt_sc=buchmesseturin)
Juergen
Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse, resümiert: „Das Interesse der
italienischen Leserinnen und Leser an deutscher Gegenwartsliteratur ist
überwältigend. (…) Der Salone del Libro ist die wichtigste Buchmesse in
Italien. Der vom Goethe-Institut und der Frankfurter Buchmesse kuratierte
Gastlandauftritt hat enorm dazu beigetragen, die Beziehungen zwischen den
italienischen und deutschen Verlagen zu vertiefen und neue Kontakte zu
knüpfen.“ (ebd.) Umso bedauerlicher ist, dass von dieser offenbar sehr gelungen
und wichtigen Begegnung so wenig in den deutschen Medien zu lesen ist. Dieser
Blog möchte daher die Kreise weiter ziehen, die von diesem Ereignis und von den
deutsch-italienischen Beziehungen im Allgemeinen berichten. Mag die Beziehung
dieser beiden Länder auch noch so alt sein, so ist sie keineswegs überholt oder
stagniert.
Wo
könnte von diesem Ereignis noch berichtet werden? Neben den Feuilletons
diverser Zeitungen wie der FAZ, DIE ZEIT oder die SZ stellt das Fernsehen
einige Sendeformate bereit, die für eine Berichterstattung über die Turiner
Buchmesse sehr gut geeignet wären: „Kulturzeit“ (3sat), „Druckfrisch“
(ARD) oder „ttt“ (ARD). Doch etwas verwunderlich ist, dass offensichtlich das
Medium Fernsehen keinerlei Beiträge über die Turiner Buchmesser sendet und sich
viel lieber mit der Biennale in Venedig beschäftigt. Und überhaupt: Wieso hören
wir eigentlich mehr von der Biennale in Venedig als vom Salone in Turin?
Vielleicht, weil die Biennale in Venedig nicht nur die wichtigste Kunstschau
Europas ist, sondern der Welt. Vielleicht auch, weil Kunst einfach für viel
mehr Geld verkauft wird, vielleicht weil die Biennale immer größer zu werden
scheint, vielleicht weil es einen Wettbewerb um den Goldenen Löwen gibt und
vielleicht auch, weil die Biennale in Venedig stattfindet, einer Stadt die eine
viel größere Anziehungskraft hat als eine Stadt wie Turin, mit der man mehr die
Industrie wie z.B. Fiat assoziiert als Kunst und Kultur – die Kenntnis und
Bedeutung des Turiner Einaudi Verlages als ein kulturelles Zentrum Italiens ist
eher ein Wissen der intellektuellen Italophilen, der Italienkenner, nicht aber
des gemeinen kulturinteressierten und Unterhaltung suchenden Fernsehzuschauers.
Nicht zuletzt eröffnet die Biennale bereits im 9. Mai und kommt der Turiner
Buchmesse damit auch kein zeitlich zuvor. Die Kultursendung „ttt“ der ARD
sendete zur 56. Kunstbiennale in Venedig sogar eine Spezialsendung (10. Mai
2015). Auch das ARD-Literaturmagazin „Druckfrisch“ (10. Mai 2015 oder 14. Juni
2015) von Denis Scheck hat sich nicht der Buchmesse Turin zugewendet, was
besonders schade ist, geht es in dieser Sendung doch ausschließlich um
Literatur aus aller Welt. Aber wir wollen an dieser Stelle auch keine Wunder
erwarten und uns nur ein bisschen wundern über uns selbst, unsere Medien und
unsere Sicht der Dinge. Bleibt also wunderlich, Freunde Italiens und lest
weiter, Literatur aus und über Italien!
Siehe
auch: Folge 2.1. Conversazione
a Torino: Deutschland, deine Dichter! Der
Salone Internazionale del Libro hat in diesem JahrDeutschland
eingeladen.